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Das Internet hören und fühlen geschrieben von Niki Slawinski (2005)

Die Sonderstellung Blinder in unserer Gesellschaft

Es sei angemerkt, dass ich mich im empirischen Teil dieser Arbeit mit blinden Schülern befasse, von denen der überwiegende Teil seit Geburt an vollständig blind ist. Die folgenden Erläuterungen beziehen sich deshalb in erster Linie auf die Situation von Geburtsblinden und Früherblindeten in unserer Gesellschaft.

Soziales Umfeld

Das Elternhaus, Pädagogen und das soziale Umfeld von blinden Kindern müssen nach Heilpädagogin Lucas auf einige wichtige Punkte achten (vgl. Lucas 1979 S. 12. Wie auch bei sehenden Kindern führt ein Verwöhnen des blinden Kindes zu Schäden. "Es gibt keine Blindenerziehung", so Lucas, lediglich die Wissensvermittlung weicht ab, vor allem in den Bereichen, in denen visuelle Informationen vermittelt werden. So sollte das Lernmaterial zwar so speziell wie nötig, aber auch so normal wie möglich sein. Als Beispiel führt Lucas Ampelanlagen heran. Um diese blindenfreundlich zu gestalten, geht es nicht darum, die visuellen Signale durch akustische Signale abzulösen, sondern beide Signalformen nebeneinander anzubieten. Auch Rath weist darauf hin, dass die Lernprozesse durch die fehlende Visualität erschwert werden (vgl. Rath 1987 S. 22. Spezifische Mittel und Methoden, wie die Braille-Schrift, müssen eingesetzt werden.

Nicht-sehen als Selbstverständlichkeit auffassen, das bedeutet für Lucas auch, dass blinde Kinder von Anfang an mit sehenden Kindern aufwachsen sollten (vgl. Lucas 1979 S. 12 ff. Dabei sollte das blinde Kind möglichst so behandelt werden, wie jedes andere auch. Als Eltern soll man die Behinderung eines Kindes akzeptieren, aber sich nicht dafür schämen. Wichtig ist, dass das Kind immer wieder lernt, "daß es einen Weg gibt, auch mit Behinderungen zu seinem `Recht` zu kommen" (vgl. Lucas 1979 S. 14. Eine Sonderstellung blinder Kinder, wie durch Sonderschulen hervorgerufen, hält Lucas für gefährlich. Als "Sonderkind" groß geworden, hat das Kind später Schwierigkeiten mit Sehenden umzugehen und ein "vollwertiges Mitglied der Gesellschaft" zu sein. Auch Daoud-Harms weist auf Integrationsprobleme von Blinden hin und betont, dass es bereits in der frühkindlichen Phase entscheidend ist, dass blinde Kinder am gesellschaftlichen Leben teilhaben und nicht ausgegrenzt werden (vgl. Daoud-Harms 1993 S. 75. Das ist schwierig, da sich am Wohnort oftmals kein Kindergarten und oder keine Schule finden lässt, wo blinde Kinder betreut werden. "Es fehle an Erfahrung", so heißt es oftmals vorschnell als Begründung von den Entscheidungsträgern in den Bildungseinrichtungen. Blinde Kinder müssen sich deshalb oftmals schon mit sechs Jahren von dem vertrauten Familien- und Bekanntenkreis trennen und wachsen im Blindeninternat in der Umgebung von sehgeschädigten Mitschülern, Blindenlehrern und Erziehern auf. Ist das Kind in der Familie aufgrund seiner Sonderstellung unter "Bedingungen von "overprotection" groß geworden, ist dieser Wechsel ins Internatsleben eine "entscheidende Zäsur für die weitere Entwicklung des Kindes". Im Blindeninternat wird es völlig fremden Menschen übergeben und "steht außerhalb der Welt der Sehenden" (vgl. Daoud-Harms 1993 S. 76. Unter diesen ausgrenzenden Bedingungen wachsen die Schüler auf und verlieren das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Und das, obwohl sie das Blindeninternat gerade auf die spätere Situation in der Welt der Sehenden vorbereiten soll. So können gut gemeinte Hilfsangebote für Blinde genau das Gegenteil erreichen.

Alle spontanen Versuche, uns in die Normalität zu integrieren, um anerkannt zu werden, führten zu neuen Widersprüchen. Je größer die Anstrengungen und ihre Erfolge waren, um so deutlicher wurde auch, daß durch die "Integration" und die "Anerkennung" unsere Probleme als "Behinderte" nicht gelöst werden konnten (vgl. Daoud-Harms 1993 S. 73.

Blinde sind "Sonderwesen", die geduldet und akzepiert sind, aber behindert bleiben, so Daoud-Harms(vgl. Daoud-Harms 1993 S. 73. Und wenn es ein Blinder im "normalen Leben" zu etwas gebracht hat, dann ist er eine Ausnahme unter den Blinden. Trotz aller Anstrengungen wird man immer wieder auf die "Blindheit reduziert" und "gegeneinander ausgespielt".

Sinneswahrnehmungen

Grundsätzlich kann sich ein Mensch an die verschiedenartigsten Umweltbedingungen anpassen (vgl. Lucas 1979 S. 22. Die Herausforderung für blinde Menschen ist es, den Gesichtssinn zu kompensieren. Unter Gesichtssinn versteht man den Sinn zur Wahrnehmung des für uns "als Licht sichtbaren Teils des Sepktrums elektromagnetischer Strahlen" (vgl. Die Große Bertelsmann Lexikothek 1995 S. 380. Beim Menschen ist das Organ des Gesichtssinns das lichtempfindliche Auge. Bei etwa 80 Prozent unserer Sinneswahrnehmungen ist in unserem Kulturkreis der Gesichtssinn beteiligt (vgl. Lucas 1979 S. 22. Roth spricht sogar von 90 Prozent an Datenmenge, die über das Auge wahrgenommen werden (vgl. Roth 2000 S. 197. Dies muss bei blinden Menschen vor allem durch den Tastsinn und den Gehörsinn, aber auch durch den Geruchs- und den Geschmackssinn ersetzt werden.

Der Tastsinn ermöglicht die haptische Wahrnehmung. Durch ihn können Formen und Strukturen erkannt werden (vgl. Lucas 1979 S. 23. Auch unterschiedliche Temperaturen können durch Tasten gespürt werden. Das Problem ist, wie oben bereits beschrieben, dass bei blinden Säuglingen der Anreiz zum Greifen durch Farben und Formen fehlt. Durch akustische Signale kann und sollte dieser geschaffen werden.

Der Gehörsinn dient der akustischen Wahrnehmung und damit vor allem der örtlichen Orientierung, dem Wiedererkennen von Personen und Räumlichkeiten (vgl. Lucas 1979 S. 24. Da die Schulung des Gehörsinns vom Sehvorgang unterstützt wird, ist auch die Gehörschulung eine große Herausforderung für sehgeschädigte Kinder und deren Bezugspersonen. Der "Bewußtwerdungsprozeß" muss geübt, auf "Schallereignisse" muss immer wieder aufmerksam gemacht werden, um die akustische Wahrnehmung zu schulen.

Auch Geruchs- und Geschmackssinn sind bei Blinden schulbar, spielen aber gegenüber dem Tast- und dem Gehörsinn eine untergeordnete Rolle (vgl. Lucas 1979 S. 25. Auch Roth gibt an, dass die Wahrnehmungsfunktion der Augen vor allem über Tast- und Gehörsinn kompensiert werden (vgl. Roth 2000 S. 199.

Blinde müssen durch Fehlen des Gesichtssinns ständig versuchen, mit allen verbliebenen Sinnen Dinge wahrzunehmen, um ein "ganzheitliches Bild" der gegenwärtigen Umgebung zu erhalten (vgl. Lucas 1979 S. 26. Durch den ständigen Einsatz aller Sinne befindet sich der Blinde in einer Stresssituation. Und obwohl ein Blinder seine Sinne intensiver einsetzt als es ein Sehender tun muss, "bleibt seine Erlebnisvielfalt geringer als die des Sehenden" (vgl. Lucas 1979 S. 26. So kann er einen Vogel auf einem Baum nicht sehen, das Vorbeiziehen der Wolken nicht wahrnehmen und nicht überprüfen, ob er korrekt gekleidet ist. Dass letzteres keine Selbstverständlichkeit ist, verdeutlicht Vollbrecht in ihrem Beitrag "Nicht sehen und trotzdem gut aussehen", in welchem sie über eine Outfitberatung berichtet (vgl. Vollbrecht 2004 S. 255.

Bzgl. des Anziehproblems schildert sie, wie sie morgens vor dem Kleiderschrank steht und nicht mehr weiß, welche Farben die einzelnen Kleidungsstücke besitzen. Gerade Geburtsblinde haben eine ganz andere Vorstellung von Dingen als Sehende, da sie einen anderen Erfahrungskomplex aufweisen (vgl. Lucas 1979 S. 26. So beschreibt Vollbrecht, wie sie sich ihr Gesicht von jemandem beschreiben ließ und als Geburtsblinde überrascht darüber war, dass ihre Lippen eine andere Farbe haben als das Gesicht (vgl. Vollbrecht 2004 S. 256. Auch wenn ein Blinder noch so selbständig ist, so Lucas, scheint die Abhängigkeit vom Sehenden nie enden zu wollen. Gerade an unbekannten Orten ist seine Orientierung stark eingeschränkt.

Bewegung, Mobilität, Orientierung und nonverbale Kommunikation

Weitere besondere Probleme blinder Kinder sind nach Lucas Lokomotionsprobleme, denn für die Bewegungsentwicklung spielt das Auge eine wesentliche Rolle (vgl. Lucas 1979 S. 17 ff. Auch Rath weist darauf hin, dass das Sehen ein wichtiger Faktor beim motorischen Lernen ist und deshalb Einschränkungen in der motorischen Entwicklung bei Sehgeschädigten auftreten können (vgl. Rath 1987 S. 37. Ein blindes Kind erhält durch fehlende optische Reize "weniger Anreiz zur Bewegung und Betätigung", so Lucas (vgl. Lucas 1979 S. 17 ff. Dies beginnt schon kurz nach Geburt. Für einen blinden Säugling gibt es bspw. keinen visuellen Anreiz, seinen Kopf zu heben und mit den Augen die Welt zu entdecken. Ungenügende Bewegungsreize können zur unterentwickelten Muskulatur führen. Obwohl also ein blindes Kind motorisch voll funktionsfähig ist, ist sein Bewegungsrhythmus gestört. Die Folge der mangelnden Körperkoordination ist räumliche Desorientierung. Dadurch, dass blinde Menschen ständig konzentriert sind, wirkt deren Lokomotion außerdem angespannt. Der angespannte Muskelturnus, so Lucas weiter, führt zu stereotypen Bewegungen, wie Wippen. Lucas konstatiert:

Durch fehlende Fortbewegungsmuster, bzw. ihre mangelhafte Ausführung, kommt es zu allgemeinen Entwicklungsrückständen und eingeengten Kontaktmöglichkeiten mit der Umwelt. Geistige, körperliche und psychische Rückstände können entstehen(vgl. Lucas 1979 S. 19.

Lokomotionskorrekturen sind deshalb sehr wichtig. Die möglichst eigenständige Fortbewegung und Orientierung ist nach Lucas "von unschätzbarer Bedeutung für die Gewinnung des Selbstwertgefühls und den Glauben an die eigenen Möglichkeiten" (vgl. Lucas 1979 S. 19.

Dass Mobilität und Orientierung Fertigkeiten sind, welche sich Blinde erarbeiten müssen, wird auch dadurch ausgedrückt, dass es für sie "Mobilitätstraining" und Schulungen "Lebenspraktischer Fertigkeiten" gibt (vgl. Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung 2001 . Mobilität umfasst Fähigkeiten, sich weitestgehend unabhängig, sicher und zielgerichtet in der Umwelt zu bewegen (S. 17). Mobilität steigert das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl. Zum Mobilitätstraining gehören das Erlernen von Stocktechniken, das Zurechtfinden in der Stadt, in öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Einkaufen. Zu den lebenspraktischen Fertigkeiten gehören alle Tätigkeiten, welche zur Bewältigung des Alltags gehören wie Körperpflege, Esstechniken, Kleiderpflege und Kommunikation.

Auch Rath stellt das Erlangen von Unabhängigkeit als einen wichtigen Faktor, der den Sehgeschädigten Selbstannahme und Selbstachtung ermöglicht, dar (vgl. Rath 1987 S. 47. Als weitere Faktoren kommen die "Art der Hilfsangebote" für Blinde und "die Unterstützung durch Menschen, die ebenfalls sehgeschädigt sind", hinzu.

Hanke spricht die nonverbale Kommunikation an, bei welcher Blinde nicht nur in der eigenen Wahrnehmung, sondern auch in der äußeren Wahrnehmung eingeschränkt sind. Blinde müssten lernen, darauf zu achten, wie sie "anzusehen sind" (vgl. Hanke 1994 S. 25. Da sie selbst nur schwer nonverbale Botschaften wie Gestik oder Mimik wahrnehmen können, fällt es ihnen nicht leicht, solche zu senden. Doch das sollten sie nach Meinung von Hanke lernen. Blinde sollten sich über "ihr Äußeres" Gedanken machen, den Kommunikationspartner anschauen und die Mimik wie z.B. das Lächeln nutzen. Dadurch bauen sich Berührungsängste seitens sehender Mitmenschen ab.

"Blindenspezifische Aspekte nonverbaler Kommunikation" und ihre Auswirkungen in Beruf und Alltag sind nach Hanke ein interessantes und wichtiges Thema für Blinde (vgl. Hanke 1995 S. 118. Er berichtet von Erfahrungen eines Seminars. In diesem lernen Blinde durch Übung, wie sie "eine ganze Menge nonverbaler Äußerungen wahrnehmen können". So würde man hören, wenn jemand den Kopf ständig dreht, die Stimme zittert oder jemand nervös mit dem Kugelschreiber klickt. Auf der anderen Seite ist es für Blinde schwer einzuschätzen, wie ihr Äußeres auf andere Menschen wirkt, und beurteilen zu können, ob sie "normal" erscheinen. Die eigene, oftmals unbewusst stattfindende nonverbale Kommunikation muss dazu wahrgenommen werden. Hanke spricht blindenspezifische Verhaltensweisen wie Augenrollen, Gesicht vom Gesprächsteilnehmer abwenden, rhythmische Schaukelbewegungen, Fingerspiele und beim Gespräch in sich Zusammensinken an (vgl. Hanke 1995 S. 118-119.

Die Bewegungsangewohnheiten, Blindisme, erklärt Lucas damit, dass Blinde ihrem Bewegungsdrang, den Sehende durch andere Bewegungsarten ausleben können, hierdurch nachgehen (vgl. Lucas 1979 S. 19. Des Weiteren fehle es Blinden an Möglichkeiten der Selbstkorrektur durch Spiegel und Glasscheiben, auf welche Sehende zurückgreifen können (vgl. Hanke 1995 S. 119. Durch diese Eigenarten grenzen sich Blinde von Sehenden ab(vgl. Hanke 1995 S. 119. Auch Abel und Thorstensen sprechen, wie Hanke, blindentypische Marotten an, durch welche sie sich abgrenzen (vgl. Abel / Thorstensen 1995 S. 68. Ein besonders "krasses" Beispiel ist, "in einer Unterhaltung den Arm auf den Tisch und den Kopf auf den Arm zu legen und somit Richtung Tischplatte zu sprechen". Interessanterweise bedienen sich Geburtsblinde allerdings auch Gesten und Mimiken, wie wir sie von Sehenden gewohnt sind (vgl. Abel / Thorstensen 1995 S. 68. So hat laut Abel und Thorstensen der Humanethologe Eibl-Eibesfeld herausgefunden, dass blindgeborene Kinder bei Schamgefühl das Gesicht hinter ihren Händen verstecken würden. Diese Geste beobachtet man auch bei sehenden Kindern, weil sie meinen, sie würden nicht mehr gesehen werden, wenn sie ihre Augen verdecken. Obwohl diese Gestik für geburtsblinde Kinder keinen Sinn macht, führen sie diese aus. Auch verlegenes Wegschauen, Weinen und Lachen sind Ausdrucksbewegungen, welche anscheinend nicht erlernt, sondern angeboren sind, da sie von geburtsblinden Kindern ausgeführt werden.

Ziele für blinde Schüler und unsere Gesellschaft

Als Ziele für blinde Schüler und unsere Gesellschaft lassen sich am Ende dieses Abschnitts zusammenfassend folgende festhalten: Blinde müssen sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft wahrnehmen und als solche wahrgenommen werden. Geburtsblinde und Früherblindete sollten zusammen mit Sehenden in ihrer vertrauten Umgebung (Familie, Wohnort) aufwachsen. Blinde Kinder müssen so speziell wie nötig, aber so normal wie möglich aufwachsen und betreut werden. Nur dann kann ihre ungewollte Sonderstellung, welche sie in unserer Gesellschaft trotz zahlreicher Integrationsversuche einnehmen, abgelegt werden. Das zentrale Ziel muss es sein, Blinde nicht nur über die Blindheit zu definieren. Die eigenständige Fortbewegung und Orientierung in der "normalen" Welt sind für Blinde eine wichtige Grundlage für Selbstachtung und ihr Selbstwertgefühl und schaffen die notwendige und erwünschte Unabhängigkeit von Sehenden.